Halbleiter: Verändert ein Zufallsfund die Welt?

18. Januar 2024
Entdeckung unter dem Mikroskop: Neuer Halbleiter transportiert Ladungen schneller als Silizium.

Forscher der Columbia University wollten lediglich ein neues Mikroskop testen, als sie auf das superatomare Material Re6Se8Cl2 stießen. Der Halbleiter zeigte unerwartet schnelle Ladungsbewegungen​​​​ – und könnte die Elektronik für immer verändern.

Es war ein Heureka-Moment in den Laboren der Columbia University: Ein Forscherteam legte einen Halbleiter, den es zuvor synthetisiert hatte, unter ein neues Mikroskop. Angeregt durch Licht zeigte das Material erstaunliche Fähigkeiten.

Die Auswirkungen auf die Elektronikindustrie könnten immens sein. Denn bekanntlich spielen Halbleiter eine zentrale Rolle bei der Funktionsweise unserer digitalen Geräte wie Computer und Smartphones. Mit ihnen lassen sich elektrische Ströme steuern und damit Informationen verarbeiten und speichern. Die Leistungsfähigkeit von Halbleitern wie Silizium ist jedoch begrenzt: Jeder daraus gefertigte Chip kann nur eine bestimmte Menge an Informationen in einer bestimmten Zeit verarbeiten. Denn wenn sich die Atome im Material bewegen, geht Energie in Form von Wärme verloren.​ Eine physikalische Hürde, die Re6Se8CI2 deutlich senken könnte.

Was macht Re6Se8Cl2 so besonders?

Re6Se8Cl2 ist ein Durchbruch in der Halbleiterforschung. Das Material besteht aus Rhenium, Selen und Chlor und zeichnet sich durch seine superatomaren Eigenschaften aus. Superatome sind Gruppen von Atomen, die sich so verhalten, als wären sie ein einzelnes, größeres Atom. Dadurch erhalten sie einzigartige Eigenschaften, die sich von den einzelnen Elementen unterscheiden, aus denen sie bestehen​​ – sie sind mehr als die Summe ihrer Teile.

Die Besonderheit von Re6Se8Cl2 liegt in seiner außergewöhnlichen Effizienz beim Transport von Ladungsträgern, die quasiballistisch, also nahezu ohne Streuung erfolgt. Im Material bewegen sich die Partikel – die sogenannten Exzitonen – geradlinig. So vermeiden sie die unregelmäßigen Bewegungen, die für Silizium typisch sind. Außerdem ermöglicht es Re6Se8Cl2 den Elektronen, sich doppelt so schnell wie in Silizium zu bewegen und sogar 23-mal schneller als in Wolframdiselenid.

„In Bezug auf den Ladungstransport ist Re6Se8Cl2 der schnellste Halbleiter, den wir bisher kennen.“ – Milan E. Delor, Assistant Professor of Chemistry, Columbia University

Die Anwendungsmöglichkeiten sind enorm vielfältig. Re6Se8Cl2 könnte die Geschwindigkeit von Computern und anderen elektronischen Geräten um ein Vielfaches steigern, Prozessoren könnten mit Hunderten von Gigahertz oder sogar Terahertz arbeiten​​. Die höhere Geschwindigkeit würde es ermöglichen, komplexe Berechnungen viel schneller durchzuführen. Das wäre ein großer Vorteil, insbesondere in Bereichen der künstlichen Intelligenz, der Datenanalyse und der Entwicklung fortschrittlicher Kommunikationstechnologien. Noch gibt es aus der Industrie keine Statements zu Re6Se8Cl2, schließlich wurden die Eigenschaften des Halbleiters erst vor wenigen Wochen bekannt. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass führende Technologieunternehmen und Forschungseinrichtungen großes Interesse an diesem Material zeigen werden.

Die Zukunft der Halbleitertechnologie?

Es gibt jedoch auch Herausforderungen. Die Herstellung von Re6Se8Cl2 ist aufgrund der Seltenheit und der hohen Kosten von Rhenium schwierig. Rhenium kommt in der kontinentalen Erdkruste mit einem Anteil von nur 0,7 ppb vor, der Preis lag im Dezember 2023 bei mehr als 1.800 Euro pro Kilogramm. Zum Vergleich: Silizium kostet aktuell rund 12 Euro.

Eine Massenproduktion von Re6Se8Cl2 ist darum derzeit ausgeschlossen. Wahrscheinlicher ist es, dass das Material in spezialisierten Anwendungen wie in der Raumfahrt oder in Quantencomputern zum Einsatz kommt​​.

Die Entdeckung von Re6Se8Cl2 ist ein Beispiel dafür, wie der Zufall die Wissenschaft voranbringen kann. Das Team der Columbia University arbeitet bereits daran, ähnliche superatomare Materialien zu finden, die dieselben oder sogar bessere Eigenschaften aufweisen könnten​​. Wir dürfen gespannt sein, welche Halbleiter in Zukunft entdeckt werden – und wie grundlegend sie die digitale Landschaft verändern werden.